Società | Interview

“Heute Battisti, morgen wir”

Der Strafverteidiger Nicola Canestrini verurteilt die Verletzung der Menschenwürde bei der Verhaftung von Cesare Battisti: “Der Mensch kommt vor dem Staat.”
Canestrini
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salto.bz: Herr Canestrini, diese Woche wurde Cesare Battist nach Jahrzehnten auf der Flucht verhaftet. Das ehemalige Mitglied der linksextermistischen Terrororganisation “Proletari Armati per il Comunismo” wurde in Italien zwei Mal zu lebenslanger Haft verurteilt. Begrüßen Sie die Verhaftung von Battisti?

Nicola Canestrini: Es ist gut, dass jeder, der verurteilt wird, seine Strafe absitzt. Das ist ein Grundprinzip jedes Staates. Italienische Gerichte haben Herrn Battisti als schuldig anerkannt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seinen Rekurs als unbegründet zurückgewiesen. Nach Jahren erfolgloser Auslieferungsanträge ist die Verhaftung von Herrn Battisti insofern willkommen zu heißen.

Warum wurde er von Bolivien und nicht von Brasilien ausgeliefert?

Bolivien hat ihn nicht als Verurteilten ausgeliefert, sondern verwaltungsrechtlich nach Italien abgeschoben. Streng genommen hätte Battisti nach Brasilien zurückverwiesen werden müssen. Denn er ist von dort nach Bolivien eingereist. Unter der Regierung Prodi wurde 2007 der erste Auslieferungsantrag an Brasilien gestellt. Brasilien hat Battisti unter Präsident Lula Immunität garantiert. Nachdem er davon ausgegangen ist, dass der neue brasilianische Präsident, Jair Bolsonaro, seine Immunität aufhebt, hat er sich nach Bolivien abgesetzt. An Bolivien hat Italien keinen Auslieferungsantrag gestellt. Somit ist an sich Battistis Recht auf Anfechtung der Auslieferung verletzt worden.

Den Tag sollte die italienische Demokratie nicht so schnell vergessen.

Die Minister der Regierung von M5S und Lega schienen sich nach der Nachricht seiner Verhaftung geradezu um Battisti zu reißen. Angefangen bei Innenminister Matteo Salvini, der auf Battisti bei seiner Ankunft am Flughafen erwartet hat, in eine Polizeijacke gekleidet. Was sagen Sie dazu?

Innenminister in Uniform kennen wir aus autoritären Staaten. Gheddafi in Libyen, Castro in Kuba sind immer in Uniform aufgetreten. Innenminister in Uniform sollten der Vergangenheit angehören – und auch dort bleiben. Die Uniform sagt etwas über Polizei und nicht über Gerechtigkeit aus, über Polizeistaat und nicht Rechtsstaat. Doch damit nicht genug. Der Innenminister hat gesagt, der verurteilte Battisti solle nun “im Gefängnis verfaulen”.

Was hat Matteo Salvini damit gemeint?

Vielleicht hat er sich darauf bezogen, dass die Bedingungen in den italienischen Haftanstalten wirklich zum Schämen sind. Nein, ich weiß nicht, was er damit gemeint hat, beziehungsweise, ich weiß es schon. Aber ich schäme mich dafür. Im Gefängnis sollte nämlich kein Verurteilter verfaulen. Laut italienischer Verfassung sollte die Strafe zur Umerziehung dienen und es dem Bürger, der einen Fehler begangen hat, durch seine Rehabilitierung ermöglichen, sich wieder in die Zivilgesellschaft einzugliedern. Das Schlimmste aber war die Show des Justizministers.

Wenn wir das Recht auf Menschenwürde heute Battisti absprechen, dann sind morgen wir an der Reihe.

Minister Alfonso Bonafede hat am Tag von Battistis Ankunft in Italien ein Video auf Facebook gestellt, versehen mit dem Kommentar: “Il racconto di una giornata che difficilmente dimenticheremo!”

Das Video der Verhaftung ist unerhört und beleidigend. Cesare Battisti wird vorgeführt wie ein Zirkustier. Dies verletzt allerdings einen Grundwert jegliches Rechtsstaates: das Recht eines jeden auf Menschenwürde. Da hat sich auch der Garante Nazionale per i diritti dei detenuti eingeschaltet und gefordert, dass Video umgehend zu entfernen. “Ein Tag, den wir nicht so leicht vergessen werden”. Das sage ich auch. Den Tag sollte die italienische Demokratie nicht so schnell vergessen.

Das Video steht immer noch auf Bonafedes Facebook-Seite.

Es geht mir nicht um den Justizminister. Wobei ich mir von ihm erwarte, dass er die Normen kennt, die die Erniedrigung jedes Gefangenen verbieten, seine Bloßstellung verbieten und ihn vor der öffentlichen Neugier schützen. Es geht mir auch überhaupt nicht um Battisti, der, wie jeder Mensch, sein Recht auf Menschenwürde behält. Wenn wir es aber heute Battisti absprechen, dann sind morgen wir an der Reihe. Gerechtigkeit kann keine Rache sein. Der Staat hat schon bewiesen, dass er stark ist – und stärker als der verurteilte Terrorist. Was will die italienische Regierung noch beweisen?

Keine Straftat, kein Verbrechen rechtfertigt eine solche öffentliche Zurschaustellung?

Nein. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt vor jeglicher Demütigung. Im Vollzug der Strafe darf man weder foltern noch demütigen. Denn das ist mit der Menschenwürde unvereinbar. Ebenso besagt das die italienische Verfassung und Art. 4 der EU-Charta der Menschenrechte. Intern kommen weitere zwei Normen zum Tragen: Laut Art. 114 der Strafprozessordnung darf ein Mensch, der verhaftet wurde, nicht abgebildet werden und Art. 42 bis der Gefängnisregelung besagt, dass der Verhaftete während er überführt wird, nicht der öffentlichen Neugierde ausgesetzt sein darf. Soweit die rechtlichen Normen.

Die im Falle von Cesare Battisti allesamt verletzt wurden?

Die sind alle verletzt worden, natürlich. Und die Politiker, die die Verhaftung, für die sie keinerlei Verdienste haben, in einen Zirkus verwandelt haben, sollten sich schämen. Inhaltlich bedeutet der Schutz der Menschenwürde, dass der Mensch selbst immer Zweck an sich bleiben muss und dass er nicht zum Zweck für etwas anderes gemacht werden darf. Zuerst kommt der Mensch, dann der Staat.

Der Staat hat schon bewiesen, dass er stark ist – und stärker als der verurteilte Terrorist. Was will die italienische Regierung noch beweisen?

Inwieweit machen Sie den Medien einen Vorwurf, die die Bilder und Inhalte der Minister reproduzieren und verbreiten?

Den Medien schenke ich normalerweise nichts. Während Pressekonferenzen der Polizeibehörden missachten sie immer wieder das Recht auf Unschuldsvermutung und präsentieren die Theorien der Polizei als Wahrheiten. In diesem Fall haben die Medien aber überhaupt keine Schuld. Denn wenn der Justizminister so etwas veröffentlicht, ist das natürlich eine Nachricht von öffentlichem Interesse.

Die Medien wurden auf eine gewisse Art auch ausgeschaltet, indem Bonafede direkt auf Facebook gepostet hat.

Genau. Sie wollen Medien, Gewerkschaften und alle “corpi intermedi”  ausschalten – und dafür Emotionen ins Spiel bringen. Daher auch die unsägliche Musik im Hintergrund des Videos.

Eine Strategie?

Die Regierung versucht mit Emotionen zu punkten – und nicht mit Rationalität. Wenn sich die Politik aber auf Emotionen verlässt, dann kann das ganz leicht schief gehen. Sind Emotionen einmal im Spiel, kann sie niemand kontrollieren.

Die Uniform sagt etwas über Polizei und nicht über Gerechtigkeit aus, über Polizeistaat und nicht Rechtsstaat.

Matteo Salvini hat nun auch von anderen Ländern verlangt, “Terroristen zurückzugeben”. Eine gerechtfertigte Forderung des Innenministers?

Jeder, der in Italien rechtskräftig verurteilt worden ist, soll in Italien seine Strafe absitzen. Punkt. Terroristen, Leute, die Geld gestohlen oder unterschlagen haben, die korrumpiert haben – insofern ist diese Aussage des Innenministers neutral. Worüber ich mich aber wundere ist zum Beispiel, warum geduldet wird, dass die Faschisten von CasaPound in Rom eine Immobilie okkupiert halten. Da muss ich mich fragen, warum ist das dem Innenminister nicht so wichtig? Ungerechtigkeit gehört so weit es geht abgeschafft – ob im Ausland oder im Inland.

Nach der Auslieferung von Battisti hat in Südtirol Alessandro Urzì die Regierung aufgefordert, die Auslieferung des “Pusterer Buam” Heinrich Oberleiter zu verlangen, der in Bayern lebt und erst im Dezember ein Gnadengesuch an Staatspräsident Sergio Mattarella gerichtet hat. Wäre dieser Schritt nicht konsequent?

Herr Urzì sollte sich etwas besser informieren. In der Europäischen Union gibt es keine Auslieferung mehr. Nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York hat die EU 2002 den europäischen Haftbefehl eingeführt. Damals hat man gesagt, man will das Politische ausklammern. Sondern es sind die Gerichtsbehörden der beiden betroffenen Ländern, die sich im Falle einer Übergabe – in Europa heißt es nicht mehr “Auslieferung” – miteinander in Verbindung setzen. Die italienische Behörde müsste also einen Antrag an die deutsche Gerichtsbehörde stellen – und die müsste die Übergabe gutheißen. Ein Gericht könnte die Übergabe auch stoppen, wenn es feststellt, dass die Grundrechte der Person, die verurteilt wurde, nicht geschützt worden sind oder eine politische Anklage steht. Das spielt sich nicht auf politischer sondern auf einer rein rechtlichen Ebene ab, die diplomatischen Beziehungen spielen dabei keine Rolle.