Società | Freiheit

„Des weard nimmer mear guet“

Erwin Demichiel, von Beruf Psychologe und ehemaliger Vorsitzender der Initiative für mehr Demokratie, über Meinungsfreiheit und die Zukunft der Demokratie.
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Salto.bz: Herr Demichiel, Sie sind nicht nur Mitbegründer der Initiative für mehr Demokratie, Unterstützer der Plattform Zukunftspakt – Patto Futuro, sondern nun auch Kandidat für die Liste Vita. Der Einsatz für die Bürgerrechte zieht sich wie ein roter Faden durch Ihren Lebenslauf.
 
Erwin Demichiel: Das ist auch der Grund, weshalb ich mich entschlossen habe, für die Liste Vita zu kandidieren. Im Ethik-Kodex und im Programm sind der Schutz der Demokratie, der Verfassung, der Menschenrechte und der individuellen Rechte festgeschrieben. Bedroht werden sie vor allem von der neuen Dreifaltigkeit: großes Kapital, große Digitalmacht, große Biotechnologie. Wir müssen nicht nur das bisschen schützen, das uns an Demokratie noch geblieben ist, sondern wir müssen mehr fordern. Die Liste Vita ist meiner Meinung nach die einzige, welche diese Problemfelder konkret und kompetent dokumentiert beim Namen nennt und auch die lokalen Auswirkungen aufzeigt
 
 
Kann man in Südtirol seine Meinung frei äußern?
 
Ich würde diese Frage nicht nur auf Südtirol beschränken. Die Meinung frei äußern? Man wird nicht eingesperrt.
 
 
Sondern?
 
Man wird beispielsweise totgeschwiegen, nicht veröffentlicht. Zum einen gibt es in unserem Land ein Medienmonopol, und zum anderen hat sich in den vergangenen drei Jahren etwas herauskristallisiert, das eine Art Bereich des „Nicht Sagbaren“ darstellt. Darüber gibt es offenbar einen großen politisch-medialen Konsens. Äußert man sich trotzdem über das „Nicht Sagbare“, so wird man dafür mit einem Begriff bedacht, der in den letzten drei Jahren eine steile Karriere gemacht hat, nämlich „Verschwörungstheoretiker“. Von einem sozialwissenschaftlichen Begriff hat sich dieser zu einem „Totschlag-Begriff“ gewandelt, der im Grunde genommen alles und nichts sagt. Zugeschrieben wird er beispielsweise jenen, die Veränderungen und Tendenzen in unserer Welt benennen und etwas völlig Neues darstellen. 10.000 Jahre Patriarchat, gefolgt von 600 Jahre Kapitalismus und 40 Jahre neo-liberaler Kapitalismus. Nun befinden wir uns mitten in einem Prozess, den man als digitalen Kapitalismus bezeichnen kann. Dokumente und Aussagen in diese Richtung kann man bei offiziellen Institutionen wie der EU, WHO, WWF, diversen Stiftungen und Think-Tanks nachlesen.
 
 
Zum einen gibt es in unserem Land ein Medienmonopol, und zum anderen hat sich in den vergangenen drei Jahren etwas herauskristallisiert, das eine Art Bereich des „Nicht Sagbaren“ darstellt.
 
 
Wie ist es dazu gekommen, dass dieser „Moralwächter-Fundamentalismus“ einiger Gruppen in unserer Gesellschaft Einzug halten konnte?
 
Ich weiß nicht, ob man von einer bestimmten Gruppe sprechen kann. Hilfreicher scheint mir der Begriff der Eliten. Es ist diese Wechselwirkung zwischen technischen, ökonomischen, politischen, kulturellen, medialen Veränderungen, die über die jeweiligen Eliten und ihrem Austausch untereinander schließlich in einen normativen Kodex münden, der sich subtil und wenn es sein muss brachial über die Medien in die Gesellschaft ergießt. Und über allem schwebt immer als heiliger Geist das Prinzip des Machterhalts und der Profitmaximierung.
 
 
 
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Erwin Demichiel: „Das, was in der Ukraine passiert, hat eine Geschichte. Um sie zu verstehen, muss man zumindest bis zum Fall der Berliner Mauer zurückgehen.“ (Foto: Salto.bz)
 
 
 
Sie sprachen von digitalen Kapitalismus  andere Bewegungen wie Fridays For Future postulieren einen System Change und „Umbau der Gesellschaft“, was eher an die kommunistische Lehre erinnert.
 
 
In diesem Zusammenhang fällt mir eine Aussage von Klaus Schwab ein, den Vorsitzenden des Weltwirtschaftsforums. In seinem Buch „The great reset“ schrieb er: „Im Jahr 2030 werden Sie nichts besitzen und glücklich sein.“ Schwab spricht vom grundlegenden Umbau der Gesellschaft. Demokratien, Verfassungen, Menschenrechte sowie individuelle Rechte stellen ein Hindernis auf dem Weg zu dieser Transformation dar. Ziel ist die Schaffung eines neuen Menschen, der nicht mehr als bio-psycho-soziales – und eventuell spirituelles – Wesen begriffen wird, sondern als ein Algorithmus, den man – frei nach Yuval Harari – hacken, programmieren und umprogrammieren kann. Bezeichnend dafür sind die transhumanistischen Schlagworte „Schnittstelle Mensch-Maschine“ oder „Internet der Körper“. Geplante Bausteine sind zum Beispiel Zensur, totale digitale Überwachung, Zentralbankgeld, Übergabe von staatlicher Souveränität an supranationale und niemandem rechenschaftspflichtige Institutionen. Vor Kurzem ist unter allgemeinem Schweigen die EU-Bestimmung „Digital Services Act“ in Kraft getreten, mit welcher unter anderem nationale und supranationale Behörden geschaffen werden, deren Aufgabe die Identifikation und Löschung im Internet von sogenannter Desinformation, von sogenannten ungesetzlichen und irreführenden Informationen ist. Argumentiert wird, dass diese Maßnahme dem Schutz der Demokratie gilt, da Menschen nicht zu unerwünschten Handlungen verleitet werden sollen, die ihnen schaden und sogenannte systemische Risiken bergen.
 
 
Wir müssen wieder zu den Prinzipien zurückfinden, auf die sich unsere Gesellschaft geeinigt hatte
 
 
Was sind systemische Risiken? Menschen, die auf den Straßen für Frieden mit Russland demonstrieren?
 
 
Ja, das ist ein systemisches Risiko. Ich habe in einem Südtiroler Medium vor Kurzem ein Interview mit dem Historiker Karl Schlögel zum Ukraine-Krieg gelesen. In den vier Seiten werden weder die USA noch die NATO erwähnt. Eine Meisterleistung von Journalist und Historiker. Ich habe in meiner Schul- und Studienzeit gelernt, in Zusammenhängen zu denken. Wie will man die Geschichte sonst verstehen? Und dann will man den Vortrag von Daniele Ganser, der genau zu diesen Zusammenhängen in Meran gesprochen hat — im übrigen teile ich seine Meinung nicht zu jedem Punkt – verbieten? Weil es sich um Desinformationen und ein systemisches Risiko handelt?
 
 
Darf man das sagen?
 
(Lacht) Das, was in der Ukraine passiert, hat eine Geschichte. Um sie zu verstehen, muss man zumindest bis zum Fall der Berliner Mauer zurückgehen. Wladimir Putin hat einen illegalen Akt gesetzt und ist in die Ukraine einmarschiert, man muss aber fragen, im Rahmen welcher Zusammenhänge es dazu gekommen ist. Die Erklärung, dass es sich um die Tat eines psychisch gestörten Individuums handelt, wird dem Thema nicht gerecht.
 
 
In der Diskussion stehen wir allerdings vor verschiedenen Positionen, die nicht miteinander interagieren und sich austauschen, sondern die Deutungshoheit über die eigene Version einfordern.
 
Wir müssen wieder zu den Prinzipien zurückfinden, auf die sich unsere Gesellschaft geeinigt hatte, wie beispielsweise die in Verfassungen verankerten Prinzipien, dass Wissenschaft bedeutet, in Zusammenhängen zu denken und dass sie immer ein Austausch von konträren Positionen ist. Wie soll man sich sonst der Wahrheit nähern, wenn nicht durch Rede und Wiederrede? In der Wissenschaft bestand eigentlich ein Konsens über die Gültigkeit von Karl Poppers Prinzip, dass jede Theorie nur dann gut ist, wenn sie falsifiziert werden kann. Wenn dieser Konsens außer Kraft gesetzt wird, gibt es kein Halten mehr.
 
 
 
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Erwin Demichiel: „Linke und liberale Kräfte haben sich schon lange von den Anliegen der Mehrheit der Menschen abgekehrt und beschweigen aktuelle große Themen.“ (Foto: Salto.bz)
 
 
 
In der Vergangenheit kam den Vertretern der Kirche bzw. den religiösen Führern als übergeordnete moralische Instanz die Aufgabe zu, Risse in der Gesellschaft zu kitten und die Spaltung zu überwinden.
 
Dieses Potential ist kaum mehr vorhanden. Papst Franziskus unternimmt noch Versuche in diese Richtung. Aber wahrscheinlich wird die künstliche Intelligenz für uns eine neue Einheitsreligion erschaffen.
 
 
Von der Spaltung scheinen derzeit insbesondere populistische Bewegungen und Bewegungen, die sich am rechten Rand formieren, zu profitieren.
 
Linke und liberale Kräfte haben sich schon lange von den Anliegen der Mehrheit der Menschen abgekehrt und beschweigen aktuelle große Themen. Da sind Ängste und Ohnmachtsgefühle, die durch die derzeitigen multiplen Krisen hervorgerufen und zum Teil gezielt verstärkt werden. Die sogenannte Mitte, die eigentlich das ganze Gefüge zusammenhalten soll, wird geschwächt, sei es wirtschaftlich wie auch durch eine intellektuelle Delegitimierung. Abgewertet wird unter anderem die konservative Haltung, die sich gegen das globale, grenzenlose Diverse ausspricht. Da hat die Rechte leichtes Spiel.
 
 
Aber wahrscheinlich wird die künstliche Intelligenz für uns eine neue Einheitsreligion erschaffen.
 
 
In der Klima-Debatte spricht man von Kipp-Punkten. Sehen Sie analog dazu auch in der gesellschaftspolitischen Entwicklung Zäsuren? Die Abschaffung des Glaubens und dessen Ersetzung durch Ideologien, in jüngster Vergangenheit die Corona-Pandemie und eine weitere Schwelle scheint sich mit der Selbstbestimmung anzubahnen siehe Beispiel Deutschland.
 
Es handelt sich um Phänomene, die uns auf dem Weg zur neuen Welt und zum neuem Menschenbild begegnen. Das Menschenbild, das durch 600 Jahre Humanismus geprägt ist, ist mit dieser Entwicklung nicht mehr vereinbar. Ein Beispiel am Rande: Welchen Sinn macht es, den Menschen, Kindern und Jugendlichen 50 oder mehr Geschlechtsidentitäten anzubieten? Sieht man sich die Rezeption in den Medien an, möchte man glauben, dass es sich um eines der zentralen Themen der Gegenwart handelt. Aber das ist es nicht. Überhaupt nicht. Das trägt nur zur Verwirrung darüber bei, was der Mensch ist. Je mehr Verwirrung, desto mehr Angst und umso leichter ist es, vom Wesentlichen abzulenken.
 
 
Wichtiger wären die Themen Wohnen, Arbeit, soziale Gerechtigkeit?
 
Und natürlich Frieden. Es werden ungeheure materielle und menschliche Ressourcen in den Krieg investiert. Und diese und die Folgen bezahlen wir alle täglich und in Zukunft in vielen Formen. Aber darüber darf man nicht sprechen.
 
 
 
Je mehr Verwirrung, desto mehr Angst und umso leichter ist es, vom Wesentlichen abzulenken.
 
 
 
Wir beobachten zunehmend eine Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Realitäten bzw. sogenannten „Blasen“. Diese diskutieren nicht mehr miteinander, sondern schreien sich – vor allem auf den Social Media-Plattformen – nur mehr an. Wie ist uns der „Raum“, in dem gemeinsam diskutiert werden kann, abhanden gekommen? Und vor allem wie könnte man diesen wieder öffnen?
 
Vor 2020 hat ich den Eindruck, dass man nicht nur über alles frei reden konnte, sondern dass eine öffentliche Auseinandersetzung sogar erwünscht war. Und dann ist etwas passiert – ich spreche hier von meiner ganz persönlichen Erfahrung – plötzlich ist ein Hass und eine Hetze losgetreten worden gegen abweichende Meinungen, die ich nicht für möglich gehalten habe. Während der Coronazeit wurden öffentlich Dinge geäußert, und zwar nicht von irgendwelchen Besoffenen, sondern von ehrenwerten Bürgerinnen und Bürgern, Intellektuellen und auch Medienvertretern, die regelrechte Vernichtungsphantasien widerspiegelten. Ich hatte das Gefühl, eine Situation zu erleben, die ich nur aus den Geschichtsbüchern kannte.
Diesen Moment habe ich persönlich als Bruch erlebt. Eine Erstarrung hat bei den Menschen eingesetzt. Wie es in einem Volksstück heißt: „Do drin hots iatz weah getun, und des weard nimmer mear guet.“
 
 
Wie lässt sich das wieder richten?
 
Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall nicht durch dröhnendes Schweigen, so wie es jetzt passiert..
 
 
Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach im Zusammenhang mit den sozialen Medien und der Informationsflut von einer „Gefahr der Hysterisierung“ der Gesellschaft. Nur noch mit Satire zu ertragen, erklärte der deutsche Comedian Dieter Nuhr. Ihre Einschätzung?
 
Die große Frage ist tatsächlich, wie wir damit umgehen. Denn eigentlich dürfte uns das alles nicht mehr ruhig schlafen lassen. Satire ist eine Möglichkeit …
 
… das zu sagen, was man nicht sagen darf.
 
Ja, und Humor. Humor ist etwas anderes als Satire und beinhaltet die Fähigkeit, sich von sich selber und von dem, was in der Welt vor sich geht, distanzieren zu können. Das einzige, das wir mit Sicherheit wissen, ist, dass nichts in dieser Welt von Dauer ist. Dinge kommen und gehen, das war immer so und wird immer so sein. In dieser dualen Welt, die nur existiert, weil es von allem sein Gegenteil gibt – Licht und Schatten, gut und böse, oben und unten – müssen wir uns entscheiden, wofür wir einstehen wollen. Es gibt keinen Ort ohne Widersprüche.
Wir Menschen sind zu Gemeinschaft befähigt und deshalb auch für Demokratie – für parlamentarische, partizipative und direkte Demokratie. Auch wenn wir Manipulationen ausgesetzt sind, können wir zusammenarbeiten und uns überlegen, wie wir den Bedürfnissen des Einzelnen und der Gemeinschaft gerecht werden können. Wir können es wirklich. Das ist das einzige, das uns wirklich helfen kann.